Home Arbeitshypothese Matrix Mehr Licht Impressum

Die Seite für Sucher nach
spiritueller Wahrheit

   

 

 


 


Arbeitshypothese

Im Menschen zeigen sich, allem Tiergleichen zum Trotz, bestimmte Fähigkeiten, die ihn sichtlich vom Tier unterscheiden: sein Vorstellungsvermögen und vor allem sein reflektierendes Bewusstsein. Aber auch seine hochentwickelte Sprache, seine Abstraktionskraft und seine Begriffsbildung sind hier als Merkmale anzuführen, seine Schrift, sein Ausbruch aus der animalischen Instinktbindung. Wer den Weg zum Geist sucht, nimmt an, dass dies alles nicht nur Folge einer natürlichen Mutation, einer blossen Weiterentwicklung des Grosshirns ist, sondern zugleich Ausdruck einer anders gearteten, einer transzendenten Potenz, die im Tierhaften des Menschen verborgen wirkt. Zwischen diesem übergeordneten Kraftzentrum und dem natürlichen, diesseitigen Bewusstsein müsse sich eine fühlbare Verbindung herstellen lassen. Ewiges könne so schon während des irdischen Lebens erfahren werden. Diese Annahmen stehen aber am Beginn meditativer Arbeit nicht als Gewissheit, sondern nur als Arbeitshypothese. Die Praxis soll sie erproben, die gebrauchten seelischgeistigen Organe sollen geweckt und geschult werden, bis der Übende die Wirklichkeit des zuerst nur Vermuteten erfährt.

“Geistig” bezeichnet hier nicht eine verstandesmässige Tätigkeit, sondern jene transzendente Spiritualität, in der alle religiöse Mystik wurzelt. Das “Halt", das dem irdisch gespeisten Denken hier geboten wird, weckt im westlich Gebildeten Misstrauen, denn er hat gelernt, sich vor allem auf seinen Intellekt zu verlassen. Jene andere intuitive Fähigkeit der Einsicht, die sich nur in meditativer Praxis üben lässt, ist verkümmert, so dass man es fast für unmöglich hält, Transzendentes während des Erdenlebens bewusst zu erfahren. Man nimmt sogar an, hinter aller Mystik verberge sich - von allen Täuschungen und Selbsttäuschungen abgesehen - nur der Versuch, den Denkgesetzen zu entfliehen, um im Trüben zu fischen.

Mystik, von Myein abgeleitet, meint aber ursprünglich nichts Verschwommenes, sondern ein geübtes und gekonntes Sich-Verschliessen gegen Aussen und Versenken in das Innere. Der Mystiker verkennt nicht die kritisch erarbeiteten Grenzen rationaler Erkenntnis, er weiss, dass sein Verstand das Transzendente nicht fassen kann. Er steht nur insofern im Gegensatz zu positivistischer Philosophie, als er neben den irdischen noch eine andere Art von “Sinnen" im Menschen annimmt, eine latente Fähigkeit also, durch geist-seelische Kräfte die transzendente Wirklichkeit wahrzunehmen und zu erkennen. Eben dieses geist-seelische Wahrnehmungsvermögen, das jedem Menschen innewohnt, das aber meist im Unbewussten verkümmert, soll in der meditativen Versenkung entfaltet werden. Der geistig Meditierende negiert nicht das rationale Erkennen, er versucht nur, diese Erkenntnisweise zu ergänzen. Will der Philosoph primär das Erfahrbare aus dem Zusammenhang heraus oder auf ihn hin interpretieren, so sucht der Mystiker dagegen primär die individuelle transzendente Erfahrung als solche und den Weg dahin, er kann dabei auf jede Interpretation verzichten.

Befasst sich geistige Versenkung auch mit dem Irrationalen, so grenzt sie sich doch vom Mythischen ab, da sie weder bei überlieferten Bildern und Symbolen verweilen noch einen neuen Mythos schaffen will.

Das Problem des Mythos wird hier nicht in der Alternative von Preisgabe oder Erneuerung gesehen. Die in mythischer Bildersprache überlieferten transzendenten Inhalte und Berichte sollen gewiss nicht rationalem Denken geopfert werden. Wenn aber ein Moderner mythisches Denken übt, vollzieht er es doch in ganz anderer Weise als ein Mensch der Vorzeit. Er entziffert mehr oder weniger verstandesmässig eine Chiffreschrift, er ist jedoch im Wachen zu weit entfernt von jener traumhaften Bewusstseinslage der Frühzeit, in welcher Transzendentes sich bildhaft niederschlagen konnte, und selbst die Träume sind heute dafür kaum mehr durchlässig genug. Darum strebt die geistige Versenkung weder Ent- noch Re-Mythologisierung an, sondern ein drittes: das unmittelbare übersinnliche Erfahren ohne Einkleidung in mythisches Gewand.

Der Meditierende beabsichtigt nicht, nur traumbewusst in die Bildwelt des Mythos einzudringen. Sein Weg führt ihn aus dem Mythos heraus, aber nicht in die vordergründige Realität, sondern durch das Bild hindurch in die hintergründige Wirklichkeit, hinein in die unmittelbare Erfahrung des Transzendenten, das sich in mythischen Bildern eben nur spiegelt.

Für eine solche neue Aneignung des Unbewussten müsste der nun erreichte hohe Grad rationalen Bewusstseins kein Hindernis sein. Im Gegenteil, die durch wissenschaftliches Denken erworbene Genauigkeit und Konzentrationskraft könnten sich auf den transzendierenden seelischen Fühlakt selbst übertragen lassen. Gewiss sucht der Meditierende beim Einsinken in sein Unbewusstes heute wie ehedem die Grenze irdisch-sinnlicher Wahrnehmung zu überschreiten, aber eben weil er die Irrungen mythischer Träume nicht mehr zu fürchten hat, kann er nun nüchtern vorgehen und die Aussagen von Mythos und Offenbarung über die Struktur des Unbewussten in neuer Weise zu Rate ziehen und nützen. Manches Unvorstellbare lässt sich auch heute noch dem Empfinden am ehesten in mythischer Sprache nahebringen, es wäre überheblich, Sprachweise, Erfahrung und Erkenntnis vergangener Jahrtausende unbeachtet zu lassen. Die Rückkehr zu solcher Erfahrung wird jedoch kaum kreisförmig im Ebenen verlaufen, wird nicht bloss frühere Bewusstseinszustände wiederholen, sondern eher einer Spiralbewegung gleichen, die erhöhte irdische Bewusstheit mit wachestem transzendenten Bewusstsein vereint in einem neuen menschlichen Ganz-Sein.

Aus dem Buch "Geistige Versenkung" von Wilhelm Bodmershof
 

Home