Die Schwelle


Im Tempel angelangt, in dem ihm die Weihe werden sollte, fragte der Schüler den Meister:

„O sage mir doch noch, du Sicherer, dem ich so lange schon mich anvertraue, was du vor dir selber bist in deinem Wissen um dich selbst, - du, der du alles in dir zu bemeistern weißt und von nichts mehr bemeistert wirst!?

Ist das, was du bist, noch im Menschen beschlossen, oder hast du in dir selbst ein Anderes gefunden, dem der Mensch nur als Maske dienen muss? -"

Und der Meister sprach:

Ich bin, wie du, ein Mensch, - aber was ich war, bevor mir meine Mutter Leib und Leben dieser Erde gab, das wurde ich hier erst, nachdem ich den Schlaf des Menschen dieser Erde überwunden hatte.

Dann erst wurde ich der Meister meiner ewigen Kräfte auch hier auf Erden, als ich den erdbedingten Schlaf bezwingen lernte, in dem die Menschen dieser Erde sich ihr Leben zu erträumen trachten.

Fragst du mich nun, was ich bin, so kann ich dir nur sagen:

Ich bin - ich selbst, und nur - ich selbst!"

„Du selbst?" - stammelte fragend der Schüler ...

„Du selbst? - -"

„Wie soll ich das deuten?! -"


„Mein wissensdurstiger Schüler", antwortete darauf der Meister, - „wie vieles hast du bereits von mir gehört, und wie vieles könnte ich dir noch zu sagen haben, - aber wie vieles muss ich dir dennoch ewig verschweigen, wenn du es nicht aus dir selber dir zuerst zu sagen weißt! -

Wirst du mehr um mich wissen, wenn ich dir nun sage:

Ich bin Herr meiner ewigen Kräfte, denn ich bin dieser ewigen Kräfte Selbstkraft geworden?

In mir sind sie nun ihrer selbst bewusst, und in meinem Willen wissen sie sich allein gewollt ..."

„So sage mir von den Kräften, deren Selbstkraft du bist, o Großbeseelter!" - bat darauf der Schüler.

Und der Meister sprach:

„Höre, du Suchender nach dem Licht, und verstehe in deinem Herzen! Wenn ihr schlafenden Menschen nach der Weise der Erde sagt: - wir sehen die Welt durch das Auge, wir fühlen oder tasten sie, und unser Ohr gibt von ihr Kunde, dann redet ihr von einem kleinen Teile der Welt, der euch mehr oder weniger erkennbar wird.

Ich aber weiß das Ganze und lebe bewusst in ihm ...

Ich sehe, höre und fühle mehr wie ihr!

Ich lebe in der ganzen Allwelt, die aus Welten, der euren gleich, gebildet ist und alles, was ist, in sich umfasst.

Ineinander verwoben, - einander durchdringend, - sind alle Welten am gleichen Ort.

In eurer Welt verborgen, - verhüllt durch eurer Welt sichtbare Formen, - steht die Welt der geistigen Kräfte, denen ich Selbstkraft aus dem Geiste bin.   Urschöpferisch, aber auch: - durch Schöpfung zerstörend, - wirken diese Kräfte.

Ohnmächtig sind sie aus sich allein, da ihnen alle Impulse fehlen, sich aus Eigenem auszuwirken, aber die Selbstkraft eines Einzigen, der - er selbst - ist, erfüllt sie mit Antrieb zum Selbsterleben, und so werden sie zu geistig gewollten Gewalten...

Die Macht dieser Gewalten fühlen alle, die hier auf Erden leben, - Könige, wie Bettler, - Starke, wie Schwache, - Reiche, wie Arme, - jedoch nur die wenigsten ahnen, aus welchen Welten her solche Auswirkung sie erreicht.

Fast allen ist es verborgen, weil sie nur traumwach sind in ihren Erdenleibern, während ihre Seelen schlafen. -


Doch, höre weiter, du, der ein Auge der Welten werden soll!

Verwoben und eingesenkt der Welt, die euch allein als die ganze Allwelt erscheint, und in gleicher Weise auch verwoben der Welt dieser Kräfte des lebenden Feuers von denen ich hier zu dir rede, steht eine Welt des reinen Lichtes, das alle Welten durchleuchtet und in sich zur Offenbarung bringt.

Diese drei Welten hält, - in sich gebettet, - sie durchströmend, und in sich selber alle erlebend, - Der Gewaltige, der sich selbst allein in Seinem Namen kennt.

Uns offenbart Er sich im Schweigen ...

Aus Ihm und in Ihm lebt jeder, der ein sehendes Auge der Welten wurde.

Durch Ihn ist Selbstkraft Herrin der Kräfte des lebenden Feuers.

Du könntest Ihn wahrlich auch - Die - Gewaltige nennen, denn Mann und Weib sind in Ihm beschlossen.

Im Urbeginn der Wesen, die sich „Menschen" nennen, war der Mensch in der ewigen Zeugung aus dem „Vater", Eigner der Selbstkraft und Herr aller Kräfte des lebenden Feuers.

Doch, als die Kräfte des lebenden Feuers das ohne Flamme brennt, dem urgezeugten Menschen ihre Macht in allem Leben zeigten, vergaß er seiner Selbstkraft, der allein die Kräfte des Feuers ihre Stärke, Größe und Gewalt zu danken hatten, und - fürchtete sich vor ihnen ...

Furcht ist des Menschen Urschuld, - denn nur aus Furcht vor den Kräften, deren Herr er war, fiel der Urgezeugte aus dem ewigen Leuchten!

Siehe, du kennst nun die Ursache alles Bösen hier auf dieser Erde!

Nicht nur der Mensch allein ist ihm verfallen, sondern auch alle Welten in die der Gefallene seine Urfurcht trug ...   Bewundernd stehst du vor den „Wundern der Natur", ohne zu ahnen, dass da alles was du wahrnimmst, aus deinem nun gebannten ewigen Geisteswillen stammt, und weitaus wunderbarer wäre, würde das Reich, das du „die Natur" nennst, und dem du selbst nunmehr verhaftet bist, dich heute noch als seinen Herrn erkennen können. -

Nun müssen alle Kräfte in ihm weiter wirken wie die Räder eines Uhrwerks, das man einmal aufgezogen hat.

Du allein kannst auch „die Natur" er-lösen, und wenn darüber noch Millionen Jahre vergehen sollten!

Aber glaube nicht, dass dieser kleine Stern auf dem wir hier jetzt leben, für sich allein die Folgen deines „Falles" trägt!

Den ganzen physisch wahrnehmbaren Weltenraum mit allen seinen Sonnen und Planeten, hat der Mensch, durch seinen Fall aus dem Bewusstsein seiner Geistesmacht, dazu verurteilt, ohne „Gott" zu sein, denn nur dem Menschen allein war urbedingt einst anvertraut, was heute unsichtbare geistesferne Machtgier sich zu eigenem Herrschbereich erzwungen hat.

Unschuldig muss, durch des Menschen Schuld, unzählbares Lebende leiden!

Schuldhaft hat er über sein eigenes irdisches Leben gleiches Schicksal verhängt.

Nur durch den Menschen, der, in Furcht verfallen, seiner urgegebenen Macht vordem entsagte, kann alle Kreatur dereinst auch wieder ihren Peinigern entrissen werden, die an dem unsagbaren Leid sich weiden, das der Fall des Menschengeistes ungewollt bewirken musste.-

Nun höre weiter vom Schicksal des Menschen, - dem Schicksal, das nicht aufgehalten werden könnte, auch wenn ihm ursprünglich nur einer der Menschen allein verfallen wäre.

Stets neues Übel neu bewirkend, durchrollt es die Zeiten aller erdmenschlichen Generationen, und mehrt die Furcht: - die Urschuld, - in jedem der neuen Geschlechter.

So sank der Mensch herab von seiner geistigen Macht und in Gott gegründeten Größe, bis eine vergängliche Tierform seinem Selbsterleben letzte Rettung bot. -

Was ihr „Urmenschen" nennt, waren jene Tiere, denen sich der geistgezeugte Mensch: - der „Herr der Erde", einte, nachdem er, durch Furcht überwunden, aus seiner Gotteseinung „gefallen" war ...

Dennoch hat ihn die Kraft aus der Höhe nicht ganz verlassen!

Aus urgegebenen Kräften lebend und den tierischen Körper durchdringend, verborgen dem Tiere. und im Tier verhüllt vor sich selbst, ahnt er doch Selbstkraft in sich wie ein fremdes, höheres Wesen.

Das Tier wurde Zuflucht dem Gefallenen, der ohne Heimat irrte, - denn die Heimat kannte ihn nicht mehr, - und des Tieres Leib ward ihm auch zur Höhle der Erlösung ...

Sobald nun Selbstkraft in ihm zu leuchten beginnt, jauchzt er im Tiere, und alle Brunst des Tieres wird in diesem Lichte dunkel. -

Darum verlangt er im Tiere ungestüm nach solchem Licht, - und immer mehr treibt heischendes Begehren ihn diesem Lichte entgegen nach jedem neuen aufgenommenen Strahl.


Einige der Wesen, die sich hier auf Erden nun „Menschen" nennen, - deren Mut gestärkt war, da sie aus dem Geiste her der Tierheit banges Mühen sahen, dem sie selbst entgegengingen, - strebten mit solcher Gewalt dem Lichte zu, dass sie das Licht bereits vor ihrer irdischen Geburt wieder erreichen konnte.

Diesen wurde Selbstkraft aufs neue zum Eigentum!

Sie wurden die ersten Helfer ihrer im Tiere schlafenden Brüder und dieser ihrer Brüder Schwestern.

Sie wurden die sehenden Augen der Welten!

Sie beherrschen die Kräfte des lebenden Feuers, die ihnen dienen mit feurigem Eifer ...

„Weisst du nun, was ich bin - ? -" fragte nach dieser Rede der Meister. Und sein Schüler, wie aus einem Traume erwachend, antwortete verwirrt, indem er sprach:

„Ja, Herr! - Ich glaube nun zu ahnen was du bist.

Allein: - erkläre mir doch, der du so vieles mir schon erklärtest, - war es dein Vater, der dir solche Geisteskraft vererbte, oder gab dir deiner Mutter Leib die Gabe solchen Erkennens?

Verzeihe mir, wenn meine Frage mehr erfragen sollte, als du mir beantworten willst!

Du weißt, dass ich vor dir mich in Ehrfurcht beuge, - aber mein Auge kann nicht vergessen, dass es dich als einen Menschen vor sich sieht, gestaltet gleich anderen Menschen, und vergebens späht es danach, an dir zu entdecken, was deines lichten Erkennens leibliche Ursache ist."

„Törichter!" erwiderte der Meister, „ich glaubte, du fragtest nach mir! - Du wolltest wissen, was ich sei!?!

Indessen hast du nach dem Tiere gefragt, das mir hier noch zur Nahrung dient, und verzehrt wird von mir, indem ich dieser Welt durch seine Kräfte lebe. -

Woher ich habe, was dir meine Worte gaben, sagte ich dir auch heute wieder.

Allein, du hörst nicht, was man dir sagt, denn immer schläfst du noch den Schlaf in dem ihr euer Leben denkend euch erträumt!

Wisse, dass meine Worte dir Wissen im Urlicht gaben, und dass nur, wer Selbstkraft besitzt, Wissen im Urlicht erlangt! -

Nun aber, - nun sage du mir, was du bist? - - denn also verlangt es das Gesetz, dass ich an dich die gleiche Frage richten muss, die du in diesem Heiligtum an mich gerichtet hast.

Was bist du?! - Der du von vielem gemeistert wirst und noch so weniges meistern lerntest! - -"

Da antwortete der Schüler:

„Meister, du fragst mit harten Worten, was wohl nur du mir sagen könntest. -

Ich - - weiß es nicht!"

Und der Meister sprach:

„Nie war ein Mensch so kühn wie du!

Wie konntest du diesen Tempel betreten, - diesen Tempel, der Keinen entlässt, der meiner Frage keine Antwort weiß, - wenn du nicht einmal sagen kannst, was du bist!?

Unseliges Nichts! - Wenn du nicht weise genug zur Antwort bist, so lass' meine Frage wenigstens deine Klugheit wecken, damit diese Mauern nicht dein Verderben sehen!"

Kaum seiner Stimme mächtig vor Erregung, und an allen Gliedern bebend, gab nun der Schüler diese Antwort:

„Du, der alles liebt, - wie dürftest du deinen Schüler töten lassen, nur weil er auf deine Frage hier keine Antwort weiß?- -

Ich mag vielleicht wirklich Nichts sein, wie du ja sagst, - mag auch dein Wort verborgenen Sinn in sich beschließen. -"

„Du Tor!" sagte darauf der Meister mit kalter Stimme und mit hartem Spott, - „du bist nicht nur Nichts in irgendwelchem geheimen Sinne, sondern dem allgemeinen Wortsinn nach!

Nichts sehe ich, dem ich die große Weihe übertragen könnte, die einer von uns dem anderen weitergibt, seitdem der erste aus uns sie durch das Urwort aus dem Urlicht empfing.

Nichts sehe ich vor mir, was diese Weihe tragen könnte, solange du noch nicht weißt, was du bist!

Vordem stand noch mein Schüler hier.

Nun sehe ich Nichts, und rede zu Nichts."

Da schrie der Schüler auf wie ein Fieberkranker:

„Meister! - Mein Lehrer! - - Du höhnst deinen Schüler!

Du willst mich verderben!

Du redest, wie du nie vorher zu mir geredet hast!

Du weißt, wer vor dir steht!

Du weißt, was ich bin!

Du weißt, dass ich nicht hier vor dir stünde, wenn ihr mich nicht gerufen hättet!"

„Was wagt mich hier zu schmähen?" erwiderte verächtlich der Meister.

Und der Schüler schrie so laut, dass seine Stimme schrill von den dunklen Wänden widerhallte:

„ICH bin es!! - - Aber ich schmähe nicht!

ICH, dein Schüler!!

ICH SELBST bin es, der ich hier vor dir stehe!!"

Als der Schüler diese Worte hinausgeschrien hatte, verließ ihn die Macht über seine Sinne, und er sank hin wie leblos.

Endlich, nach einem langen und tiefen Schlafe, erwachte er.

An dem Lager, auf das man den fast Leblosen gebettet hatte, stand der Meister.

Der Schüler sah um sich und erkannte den Ort nicht mehr, denn er war nun in den inneren Räumen des Tempels.

Dann erkannte er aber den Meister, und sah, dass sein Angesicht leuchtete vor Freude.

„Stehe auf", sagte der Meister mit liebeerfüllter Stimme, - „stehe auf und ersteige jetzt die erste der sieben Stufen, die dich zum Heiligsten des Tempels bringen.

Dort wirst du die Kraft erlangen, der die feurigen Kräfte gehorchen ...

Du hast nun die Probe der Schwelle bestanden, denn zum ersten Male ward jede Faser deines Körpers zum - Wort! -   Vorher waren nur Kopf und Herz lebendig.

Nun ist im Schrei deiner Todesangst Alles in dir zum Leben erwacht!

Nun ist der Mensch im Tiere zu sich selbst gekommen und sein Schlaf ist überwunden!"


Der Schüler hörte diese Worte und wusste nicht wie ihm geschah.

Halb zweifelnd noch ergriff er die Hand des Meisters und sprach:

„O du Gütiger! - Wie groß ist doch dein Herz! - Was soll ich tun, dir zu danken?!"

Aber der Meister schüttelte das Haupt und sagte mit ruheerfüllter Stimme:

„Steige die Stufen! Und wenn du vermagst, dieser Aufgabe zu entsprechen, wie ihr entsprochen werden muss, - dann werde ich dich wiedersehen.

Wer reif zum Finden ist, der wird hier gefunden.

Wenn du aber zu früh gekommen bist, dann wirst du diesen Mauern auch jetzt noch nicht entrinnen.

Lebe wohl!

Vielleicht - siehst du mich wieder!

Noch stehst du vor dem Letzten!"


Darauf führte der Meister seinen Schüler schweigend durch lange und gewundene dunkle Gänge, - und schweigend verließ er ihn, als sie angelangt waren vor den sieben hohen Stufen.

Allein, - ohne jede Hilfe, - musste der Schüler zu steigen versuchen.

Fest, gesammelt, und mit eisernem Willen, gelang es ihm, nach langewährendem, immer vergeblichen Bemühen, endlich die Höhe der ersten Stufe zu erreichen.

Jede neue Stufe war noch weit schwerer zu erklimmen als die vorher erstiegene.

Oft drohten seine Kräfte ihn zu verlassen.

Die siebente Stufe aber war kaum zu ersteigen, denn sie war - so hoch wie er selbst ...

Mit seiner letzten Kraft musste der Schüler versuchen, über sich selbst hinaufzugelangen, bis er, nach unsäglicher Anstrengung, endlich vermochte, sich auf diese höchste der Stufen emporzuschwingen.

Hier zeigte endlich sich der Weg nun frei, zum Heiligsten des Heiligtums.

Im Heiligsten des Tempels angelangt, fand der Schüler hier Alle, die vor ihm die gleichen Stufen erklommen hatten, und unter den allhier Versammelten gewahrte er auch den Meister, dessen Schüler er war.

Als er ihn erblickte, wollte er dankbar des Meisters Hände küssen, denn wohl fühlte er, welche Veränderung mit ihm selber vorgegangen war, und dass er die Kraft nun besaß, die ihm der Meister verheißen hatte, falls er die sieben Stufen zu ersteigen vermöchte.

Aber der Älteste derer, die sich im Heiligsten des Tempels gefunden hatten, wehrte gütig ab und sprach:

„Wem willst du noch danken, - es sei denn Dem, in dessen Namen du zu Worte wurdest?! -

Siehe, wir Alle sind: - Einer in Einem! - In dir war, was uns zu dir rief! -

In dir war, was zu sich selbst gelangen wollte! -

In dir war, was in dir vollendet wurde! -

Du lebst nun in uns, und wir in dir!

Wir, - Alle Einer, - aber leben in Dem, der uns eint!

Ihn erkennend, beten wir Ihn an - in uns selbst ..."

So war der Schüler selbst zum Meister geworden, und nun Allen vereint die vordem ihn geleitet hatten, da sie ihn bereitet fanden zur ewigen Einung, - schon ehe er hier auf Erden geboren worden war.

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